„WIR“ – Die Lösung der Probleme von Morgen?
Was könnten wir nur gemeinsam erreichen, wenn in unserem Gedankenuniversum das Gemeinwohl im Mittelpunkt stehen würde? Was wäre möglich, wenn der Wettbewerbsgedanke durch ein „Wir“ abgelöst werden würde? Wie würde unsere Welt im Kleinen und im Großen aussehen, wenn der Mensch, die Natur und alle anderen Lebewesen im Mittelpunkt stehen würde, wenn niemand wüsste, was Profit bedeutet? Im Buch „David gegen Goliath“ ging es darum, Unternehmen aus dieser Profitmaximierung herauszuholen und sie hin zu mehr Gemeinwohl zu führen. Schon ein interessanter Ansatz. Doch davor muss die Gesellschaft selbst solidarischer werden und genau darum geht es im Buch „WIR“ von Wolfgang Picken. Es geht darum, die Zivilgesellschaft zu stärken, sie zu einem handelnden Akteur zu machen, einem Akteur auf Augenhöhe mit Politik und Wirtschaft. Um die Zivilgesellschaft der Zukunft.
„WIR – Die Zivilgesellschaft von morgen“ von Wolfgang Picken
Dr.Wolfgang Picken ist seit 1993 Priester und seit 2013 leitender Pfarrer im Seelsorgebereich Bad Godesberg. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass für Wolfgang Picken das „WIR“ mit der Familie beginnt. Dabei hängt er zwar nicht am alten Familienbild – also Vater, Mutter und Kind – sondern spricht von Familie generell. Familie als kleinste soziale Zelle in der Gesellschaft und als wichtigste. Familie als Netzwerk, welches sich gegenseitig hilft, welches für den Einzelnen da ist, wenn dieser Hilfe braucht. Familie als soziale Einheit, in der Pflege für Jung und Alt organisiert werden kann. Und weil Familie so wichtig ist, muss auch dem Gelingen von Familie, also auch dem Gelingen der Ehe, große Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Auf diese soziale Netzwerk bauen die Überlegungen von Wolfgang Picken auf, der Rest baut darauf auf, leitet sich davon ab. Denn das, was die Familie nicht leisten kann, dass muss dann das größere „WIR“ organisieren. Nicht der Staat, sondern die Zivilgesellschaft. Dass diese es kann, hat sie gezeigt, als viele Menschen bei uns Schutz und Hilfe gesucht haben, nachdem sie ihre Heimat verlassen mussten. Wolfgang Picken berichtet im Buch von diesen Erfahrungen, aber auch von den Erfahrungen, die seine Mitstreiter und er mit der Bürgerstiftung „Rheinviertel“ gemacht hat. Er berichtet über den Alltag in Kindergarten, der Überforderung von Erzieher*Innen, Pädagogen und Pädagoginnen, aber auch von der zu geringen Anerkennung und der hohen Arbeitsbelastung von Pfleger*innen in der Gesellschaft. Daraus leitet er Forderungen ab und erkennt dabei auch, dass dazu alle Akteure auf Augenhöhe zusammenarbeiten müssen: Kirche, Staat, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Dabei bleibt er realistisch, sieht auch, dass die Kirche derzeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass der Staat zu bürokratisch und der Politiker zu sehr in seine eigene Welt zurückgezogen ist. Er setzt seine Hoffnungen für die ersten Impulse also auf die neue Zivilgesellschaft und die Wirtschaft. Die Zivilgesellschaft hat die Manpower, die Zeit und die Wirtschaft die finanziellen Reserven, um vieles in dieser Gesellschaft zum positiven zu verändern.
„Um bundesweit ein WIR-Gefühl zu ermöglichen, braucht es eine ehrliche Transparenz über die sozialen Problemlagen und den Appell, sie als Herausforderung der gesamten Zivilgesellschaft zu verstehen und anzunehmen. Wichtig ist die Botschaft: Alle sind betroffen und gefordert!“
Quelle: „Wir“ – Seite 174
Macht das WIR die Veränderung?
Bleibt das Fazit und die Frage, ob das WIR die Veränderung bringt?
Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Buch schöne Einblicke gibt. Einblicke in die Herausforderungen, vor der unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten stehen wird und darin, wie die Arbeit an den Lösungen konkret aussehen könnte. Der Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft wieder zum „Wir“ zurückkommen muss, also zu mehr Solidarität zwischen den Menschen, ist dabei durchaus richtig und auch kein Gegensatz zum sich frei entfaltenden Individuum. Aber kann dieses „WIR“ im kapitalistisch geprägten Gesellschaftssystem wirklich gelingen? Kann das „Ich“, welches im permanenten Wettbewerb zu den ganzen anderen „Ichs“ in dieser Gesellschaft steht, wirklich so transformiert werden, dass es dieses ständigen Wettbewerbsmodus verlässt und in ein solidarisches „Wir“ umschaltet? Oder ist das am Ende gar nicht nötig, weil Solidarität notfalls ja auch zu einem Wettbewerb zwischen Individuen werden kann?
Hierauf fehlen mir ein wenig die Antworten im Buch. Es greift zwar das Gefühl auf, dass wir endlich zu mehr Solidarität in dieser Gesellschaft finden müssen, hinterfragt dabei aber nur selten die Ursache für das Fehlen eben dieser Solidarität. Natürlich gibt es Menschen, die im Ehrenamt tätig sind, die anderen Menschen helfen, aber eben immer nur in dem Rahmen, in welchen es unser Wirtschaftssystem zulässt. Auf lange Sicht wird es zwischen der solidarischen Zivilgesellschaft und der Wirtschaft zu Konflikten kommen, spätestens dann, wenn durch die Zivilgesellschaft der Profit der Unternehmen in Gefahr ist. Denn – und das ist die größte Kritik am Buch – unsere größten Herausforderungen in der Zukunft ist nicht nur die Pflege von alten- und die Erziehung von jungen Menschen, es ist nicht nur die Frage, wie wir mit Menschen umgehen, die bei uns Zuflucht suchen, sondern eben auch der Klimawandel und der Erhalt der Natur, der Erhalt unserer Lebensgrundlage. Diese Herausforderungen wird eine neue Zivilgesellschaft lösen müssen, aber sie wird dazu in Konflikten mit der Wirtschaft und dem kapitalistischen System gehen müssen.
Als Einleitung ins Thema, als Einblick in einen Teil der Herausforderungen, ist das Buch aber dennoch perfekt und es behauptet ja auch nicht, den Kapitalismus zu kritisieren, deswegen bekommt es insgesamt 4 von 5 Punkte von mir.
Titel: WIR
Autor: Wolfgang Picken
ISBN-13: 978-3579087276
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